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Interview mit Marek Halter*

zum Prozess gegen Papon

"Der didaktische Aspekt kam völlig zu kurz"

Frage: Wir reagieren Sie auf das Urteil? Mit Genugtuung über den Schuldspruch oder eher enttäuscht wie manche über das Strafmass?

Marek Halter: Ich bin vom ganzen Prozess enttäuscht, nicht nur vom Urteil. Es handelte sich immerhin um einen Prozess wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit, der Rechtsgeschichte macht. Zehn Jahre Haft für Beihilfe zu Verbrechen gegen die Menschlichkeit bedeuten, dass morgen in Den Haag die Kriminellen, die in Ruanda oder Bosnien gemordet haben, nicht mit mehr als zehn Jahren rechnen müssen! Und wenn übermorgen Pol Pot, der drei Millionen Kambodschaner auf dem Gewissen, gefangen wird, könnte auch da der Papon-Prozess als Muster dienen.

Frage: Zugleich hat aber dieser Prozess den "Schreibtischtäter" als Verbrecher definiert, der in seiner administrativen Rolle zum Komplizen des Genozids werden kann?

Marek Halter: Für die Menschen ist es wichtig, Prinzipien zu besitzen, die sie ihren Kindern und Enklen beibringen können und die es erlauben zwischen Gut und Böse zu wählen und die Limiten zu erkennen. Ich glaube, dass dieser Prozess diese Begriffe verwischt hat. Alles ist vermischt und getrübt worden. Allein die Tatsache, dass die Geschworenen fast 18 Stunden beraten mussten, beweist, dass für sie die Schuld jener, die kollaborierten, ohne selber den Abzug zu drücken, nicht offensichtlich war. Wie soll da die Schuld für die Millionen von Bürgern, die den Prozess nur mit einigen Bildern am Fernsehen verfolgten, einsehbar sein?

Frage: Wo liegt das Problem?

Marek Halter: Der Prozess ist in seiner didaktischen Aufgabe völlig gescheitert, weil in keinem Zeitpunkt dem Verhalten eines Papon die Haltung anderer Franzosen gegenübergestellt wurde, die man "Les Justes" (die "Gerechten") nennt und die ab 1942 Juden retteten, weil sie wussten, ohne von Auschwitz gehört zu haben, dass diese Juden sonst in den Tod gehen würden. Beim Papon-Prozess aber hat man den Franzosen und vor allem den Jüngeren nicht den Eindruck vermittelt, dass es damals eine Alternative gab. Es war nur von der Polarisierung zwischen Kollaboration und Résistance die Rede. Nun ist es nicht jedem gegeben, sich der Widerstandsbewegung anzuschliessen oder gar wie Jean Moulin unter der Folter zu sterben. Die wirkliche Alternative bestand jedoch zwischen dem Verhalten der "Papons" und dem der "Gerechten", das heisst, zwischen jenen, die machen liessen und selber Teil der Mordmaschine wurden auf der einen Seite und jenen, die Menschenleben retteten, andererseits. Einem Nachbarn die Hand reichen, das ist für jeden (als Engagement) möglich. Aber genau das kam in diesem langen Prozess nie zum Ausdruck. Ich finde das geradezu kriminell.

Frage: Die Verteidigung nutzte Papons hohes Alter und seine angeschlagene Gesundheit als Argument. Diente der Prozess am Ende der Verharmlosung?

Marek Halter: Als die Philosophin Hannah Ahrendt beim Eichmann-Prozess den Angeklagten sah, war sie verblüfft vom Anblick eines so mittelmässigen und unbedeutenden Menschen. Sie hatte erwartet, das Böse müsse durch einen "Supermann" oder einen raffinierten Satan personifiziert sein. Statt dessen stiess sie auf eine absolute Banalität. Sie zog daraus die Folgerung, dass das Böse in der banalsten und unscheinbarsten Form erscheint und sich gerade deshalb so leicht verbreitet, weil es so fast unscheinbar ist. Das Böse kann aber auch attraktiv glänzen durch seine Arroganz. Und diese andere Seite hat Papon verkörpert. Er forderte für sich die Glorie eines Résistance-Mitglieds und wollte allen Lehren erteilen. Er hat in seinem Schlusswort auch etwas Schreckliches gesagt: Er warnte jene, die über ihn richteten davor, die Ehre und Treue der Beamten in Frage zu stellen. Soll das heissen, dass diese Millionen von Staatsdienern und Bürokraten nicht Menschen sind wie Sie und ich, die ein Gewissen haben und dem Ruf des Gewissens folgen? Papons letzter Appel ist gefährlich: Bewahrt die Verwaltung vor dem Gewissen! Im Gegenteil müsste man in die Verwaltung eine Gewissenklausel für die Beamten einbringen.

Frage: Beim Prozess war viel von der "Pflicht der Erinnerung" die Rede. Doch es zeigte sich, dass die Optik sehr variieren kann.

Marek Halter: Dieser Begriff der Pflicht zur Erinnerung und zum Gedächtnis ist gefährlich. Denn die Erinnerung ist da, um Familien und menschliche Gruppen zusammenzuschweissen. Meine Erinnerung, mein Bild der Vergangenheit aber kann mit dem meines Nachbarn in Konflikt geraten, kann Hass oder sogar Kriege provozieren. Man sah dies in Ex-Jugoslawien und in Afrika. Die Erinnerung ist porös, selektiv und partiell. Die Geschichte dagegen gehört der Menschheit. Seit den griechischen Philosophen war die Geschichte ein Lernen. Man begreift die Geschichte, wenn man Lehren daraus zieht. Nur die Jahreszahl der Schlacht von Waterloo auswendig zu kennen, ändert nichts in meinem Leben. Wenn aber aus Waterloo eine Lehre zu ziehen ist, kann das den Gang der Ereignisse beeinflussen. Ich bedaure es, dass diese Periode des Nationalsozialismus in unseren Schulbüchern schlecht und ungenügend behandelt wird.

Frage: Frankreich tut sich schwer mit dieser Periode der Vichy-Regierung, die wie ein Familiengeheimnis verdrängt wurde. Erklärt dies die Probleme, die es vor und bei diesem Prozess gab?

Marek Halter: Das erklärt nicht nur die Schwierigkeiten, um diesen Prozess anzustrengen, sondern viel mehr. Vor allem die Präsenz einer derart starken extremen Rechten in Frankreich. Es gibt in Europa zwei Länder, die ihre Vergangenheit nicht aufgearbeitet haben: Österreich und Frankreich. Und wie durch Zufall sind dies die beiden einzigen Länder, wo die extreme Rechte in bestimmten Region 25 oder 30% der Stimmen erreicht. Wenn eine Nation nicht in der Lage ist, die Lehren aus der Geschichte zu ziehen, ist sie dazu verflucht, ständig dieselben Irrtümer zu begehen.

Interview: Rudolf Balmer, Paris

* Zur Person: Der 1936 in Warschau geborene Schriftsteller Marek Halter lebt in Paris. Nach einer ersten Karriere als Kunstmaler, engagiert er sich persönlich für den Frieden im Nahen Osten, die Menschenrechte und den Antirassismus. Zusammen mit seiner Frau Clara gründete er die erste Zeitschrift, in der Palästinenser und Israelis zusammenarbeiteten. Sein erstes Buch "Le fou et les rois" über seine Erfahrungen als Dialogstifter im Nahen Osten wird 1976 ein mit dem Pulitzerpreis ausgezeichneter Bestseller. In den Erfolgsromanen "La Mémoire d'Abraham" (1983) und "Les fils d'Abraham" (1989) arbeitete er die Geschichte seiner eigene jüdischen Familie auf, "Un homme, un cri" (1991) ist ein Rückblick auf sein reichhaltiges internationales Engagement. Sein letzter Roman "Le Messie" ist die Geschichte von David Reubeni, der im 16. Jahrhundert die Juden Europas versammeln und nach Palästina führen wollte. rb

Copyright: R. Balmer

 

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© Affaire Papon - JM Matisson

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